Mitteldeutsche Zeitung, 29.12.1997

Gottfried August Bürger
Im steten Kampf mit sich selbst

Genialer Dichter und Opfer seiner unseligen Lebensgeschichte - Am 31. Dezember vor 250 Jahren wurde in Molmerswende der Schöpfer der Kunstballade geboren
Von Paul Raabe

Halle/MZ. Als Goethe und Schiller vor 200 Jahren in ihren "Xenien" in einem Rundumschlag über die zeitgenössische deutsche Literatur und über alles, was Aufklärung hieß, den Stab brachen, lebte Gottfried August Bürger nicht mehr. Er war 1794 an der Lungenschwindsucht im Alter von 46 Jahren gestorben: Ein seelisch und körperlich gebrochener Mann.
   Er hatte noch erleben müssen, wie ihn einer der beiden Klassiker, Friedrich Schiller, in einer Rezension auf eine infame, unverzeihliche Weise wegen des volkstümlichen Stils seiner Gedichte und Balladen nicht nur abkanzelte, sondern zugleich moralisch vernichtete. Und Goethe, der den jungen Bürger noch bewundert hatte, schrieb später in seinen "Maximen und Reflexionen": "Es ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch sich gar oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Trauriges Beispiel: Bürger."

Verkannt und vergessen

Aber in einem anderen Sinne ist Bürger ein "trauriges Beispiel". Das Verdikt der Klassiker hat dazu beigetragen, daß dieser Dichter der Sturm- und Drangperiode, in der die Aufklärung zugleich in literarischer Hinsicht einen Höhepunkt hatte, nie den Platz in der deutschen Literaturgeschichte erhalten hat, der diesem genialen und zugleich unglücklichen Autor zukommt. Ist ohnehin heute die Erinnerung an die große Zeit der deutschen Literatur vor 200 Jahren insgesamt im öffentlichen Bewußtsein verblaßt, so gilt dies um so mehr für Gottfried August Bürger. Er wurde das Opfer seiner unseligen Lebensgeschichte.
   Bürger kam in dem kleinen Dorf Molmerswende unweit von Harzgerode unterhalb der Burg Falkenstein - also im Ostharz - am letzten Tag des Jahres 1747 als Sohn des Ortspfarrers zur Welt. Er besuchte das Gymnasium in Aschersleben, ehe er von 1760 bis 1763 die pietistische Erziehung in dem damals renommierten Pädagogium der Franckeschen Stiftungen in Halle erhielt und hier den Grund zu seiner philologischen Neigung und seinem poetischen Talent legte. Der Großvater
schickte den begabten, aber wohl leichtsinnigen Enkel zum Studium, zunächst auf die Landesuniversität Halle, dann außer Landes nach Göttingen. Diese Stadt sollte Bürger zum Schicksal werden. Er fand zwar in der Nähe 1772 als Amtmann eine auskömmliche Stellung, die ihm durchaus Zeit ließ, seinen Göttingischen Musenalmanach zu redigieren.
   Doch seine Ehe war überschattet von der Liebe zur Schwester seiner Frau. Nach deren Tod 1784 heiratete er die Schwester, die aber nach zwei Jahren ebenfalls starb. Bürger, der eine bescheidene, unbesoldete Stellung als Privatdozent, später als Professor an der Göttinger Universität erhielt, ging 1790 eine dritte Ehe ein, die aber wegen des lockeren Lebenswandels seiner Frau wieder geschieden wurde. Doch Bürger war inzwischen zum Gespött unbarmherziger Bewohner Göttingens geworden. Hinzu kam die Sorge um seine vier minderjährigen Kinder, und so starb Bürger auch an einem gebrochenen Herzen.
   "Bürgers Leben war zu allererst ein Kampf mit sich selbst. Seine Lebensgeschichte, eine Geschichte von ungenutzten Talenten und von Träumen, die sich in Leidenschaft und Leichtsinn verloren, von Widersprüchen zwischen Selbstüberschätzung und Selbstaufgabe, Stärke und Schwäche." Das schreibt Helmut Scherer in seiner 1995 im eigenen Verlag erschienenen, sehr lesenswerten Biographie, die gerade für die Kindheit. die Jugend- und Studienjahre in Molmerswende, Aschersleben und Halle neue, interessante Quellen erstmals erschließt.
   Das Leben Bürgers überschattet zu Unrecht sein dichterisches Werk. Er war einer der begabtesten Lyriker seiner Zeit. Mit seiner "Lenore" schuf er die Gattung der Kunstballade; in seinen Gedichten traf er den volkstümlichen Ton wie kein anderer. Die Liste der fast 2 000 Subskribenten seiner Gedichtsammlung von 1778 zeigt, wie beliebt der Dichter damals war.
Die stolze Liste wurde von der britischen Königin angeführt. Alle berühmten Namen findet man verzeichnet: u.a. Lessing, Wieland, Frau Rat Goethe, Nicolai, Knigge.

Brotarbeit "Münchhausen"

Doch leider fehlte Bürger die Kraft und die Ausdauer, Geplantes zu verwirklichen oder Begonnenes zu vollenden. So erging es ihm mit der Übersetzung der "Ilias" und der Übertragung der Dramen Shakespeares. Beide Unternehmen kamen über Anfänge nicht hinaus. Zu Unrecht werden seine Gedichte kaum noch gelesen. Nur seine Balladen sind Volksgut geworden und - die Übersetzung und Bearbeitung der "Wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustigen Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen". Diese Brotarbeit aber hat Bürger seinen Zeitgenossen verheimlicht, vielleicht aus Takt gegenüber der Familie von Münchhausen. Doch mit diesem Werk lebt Gottfried August Bürger weiter.
   "Trauriges Beispiel: Bürger". Die unzureichende Vermittlung von Literaturgeschichte heute ist hierzulande ein Bildungsproblem geworden. Man wünschte sich eine bessere Kenntnis der Schätze unserer literarischen Kultur. Sie ist reich an Werken. Aber sie ruhen im Verborgenen: "Trauriges Beispiel: Bürger."

Professor Paul Raabe ist Direktor der Franckeschen Stiftungen zu Halle.