Der Grafschafter, Anzeiger für Moers, Homberg und den Niederrhein 29.12.1942
Der Dichter der "Lenore"
Zum 195. Geburtstag August Bürgers am 31. Dezember 1747

Zwei Werke Gottfried August Bürgers kennt wohl jeder: Die "Lenore", das Meisterstück balladesker Dramatik und unheimlich packender Land- und Stimmungsmalerei, und die grotesken Aufschneidereien und Schnurrpfeifereien des "Freiherrn von Münchhausen", des genialen Lügners und Jägerlateiners. Aber wenn über diese unsterblich-witzigen Geschichten gelacht wird, von den Kindern und den Großen, dann wissen viele nicht, daß sie ein Werk des Dichters B ü r g e r genießen. Allerdings ist der "Münchhausen" nur mittelbar von ihm, und die Urautorschaft ist ziemlich verwickelt. Da war nämlich im 18. Jahrhundert ein Hieronymus Freiherr von Münchhausen im Hannoverschen, aus dem Adelsgeschlecht, dem mehrere namhafte Staatsmänner und dem auch der zeitgenössische Dichter Borries Freiherr von Münchhausen entstammten. Dieser Hieronymus erzählte, bei der Pfeife und beim Wein, tatsächlich und mit toternster Miene, so haarsträubende Geschichten, wie sie in dem weltbekannten "Münchhausen"-Buche stehen. Aber aufgeschrieben hat sie zuerst ein sonst unbekannter Museumsbeamter aus Kassel, namens Rudolf Raspe, der wegen dunkler Angelegenheiten nach England ging. Raspe veröffentlichte die Geschichten in englischer Sprache. Bürger übersetzte, 1786, das Buch. Aber es ist nicht nur die meisterhafte, kernige, trockenhumorige, volkstümliche Verdeutschung, weshalb wir das Werk auf seinen Namen buchen dürfen - Bürger hat auch viele Schwänke aus eigener Erfindung hinzugetan, und darunter gerade einige der besten, wie den Wunderschuß auf die Enten, den Ritt auf der Kanonenkugel, das Herausziehen aus dem Sumpf,am eigenen Haarschopf, und andere.
  Das unglückliche, in vieler Hinsicht unselige Leben des Dichters wollen wir, an diesem Gedenktage, im einzelnen nicht wieder darstellen: seine Haltlosigkeit als Student und später in elend bezahlten Amtsposten; seine Verstrickung in die Leidenschaft für die Schwestern Dorette und Auguste (die er "Molly" nannte) Leonhardt, mit denen er viele Jahre in einer Art anstößiger Doppelehe lebte und die ihm beide wegstarben; seinen dritte Ehe mit einer Elise Hahn, die sich in seine Versen verliebt hatte und die ihn dann betrog; seinen Todn in Elend und Verbitterung.
  Bekannt ist Schillers sachlich zwar zutreffende, aber menschlich allzu scharfe Rezension der Bürgerschen Gedichte. Dieses Urteil aus diesem Munde traf Bürger besonders schwer. Halten wir uns heute an die Genialität dieses Mannes, die ihn hoch aus der deutschen Lyrik vor Goethe und Schiller emporhebt. Gewiß, es ist richtig, daß es Bürger an sicherem Geschmack fehlte, daß er, wie Schiller, dem Sinne nach, herb tadelnd anmerkte, das Volkstümliche oft mit dem Vulgären und Niedrigen verwechselte oder vermengte und daß es ihm, nach des Literaturhistorikers Goedeke zusammenfassendem Urteil, nicht gelang, seine großen Gaben "innerlich zu läutern". Dennoch: seine "Lenore" lebt als eine der großartigsten Dichtungen, die in deutscher Sprache geformt wurden und sie wird weiter leben. Den Stoff zu dieser unheimlich-grausigen, unerhört sprachgewaltigen Ballade nahm Bürger aus einer dichterisch wertlosen Schauermär, die er von einem Dienstmädchen singen hörte. Die Lenore ist die erste künstlerische deutsche Ballade überhaupt, die aus dem meist rohen und oft zotigen Bänkelsang der Jahrmärkte veredelt wurde. Es leben weiter von ihm die Ballade "Der wilde Tiger [Jäger]", sein "Lied von der Treue" und sein "Lied vom braven Mann", und lesenswert, ergreifend sind viele sinnlich, glühende, dichterisch hinreißende Verse seiner Liebeslyrik.
  Bürger kannte seine charakterlichen und künstlerischen Schwächen, über die seine Zeitgenossen, mitleidlos und viele pharisäisch, zu Gericht saßen, selbst sehr wohl und bekannte sie in erschütternder Selbstkritik. Die Nachwelt kann das Unmenschliche dieses Dichters auf sich beruhen lassen - nach der Weisheit:
    Die schlechtesten Früchte sind es nicht,
    woran die Wespen nagen -
denn auch dieser Spruch ist von dem Dichter Gottfried August Bürger.