Bürger-Zeitung / Düsseldorfer Abend-Zeitung 1. Januar 1898
[Text aus der Leipziger Volkszeitung vom 28.12.1897 übernommen]

Gottfried August Bürger.
Zum 150. Geburtstage eines deutschen Dichters.

Von Edgar Steiger.
Es war im Jahre des Heils 1773 in der altehrwürdigen Universitätsstadt Göttingen. Da saßen eines Abends die Mitglieder des vor Jahresfrist gegründeten Hainbundes, lauter junge Studenten, die ihren Homer und Shakespeare anbeteten und sich an Klopstock's Oden für der deutschen Sprache Herrlichkeit begeisterten, in erregtem Zwiegespräch beisammen. „Der neugebackene Justizamtmann ist übergeschnappt'" versetzte der älteste unter ihnen, der etwa 30 jährige Boie, der als Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs gerne die Rolle dews väterlichen Berathers spielte. „Dem jungen Mann muß etwas Bescheidenheit beigebracht werden." Ein allgemeines Beifallsgemurmel begleitete diese salbungsvollen Worte. „Boie hat recht", ergriff jetzt Voß das Wort. „Er wagt es, unserem großen Klopstock den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Ist das nicht Größenwahn?' J. M. Miller und der zarte Hölty, dem eben wieder ein tugendhaftes Weinlied durch den Kopf ging, nickten stillschweigend mit den Köpfen. Der junge Stolberg aber schlug mit der Faust auf den Tisch und deutete auf den Brief, den Boie vor sich ausgebreitet hatte. „Und das laßt Ihr Euch bieten? ,An die Spatzen des Hainbundes der Adler Gottfried August Bürger!' Das uns, von denen sogar der große Klopstock mit Ehrfurcht spricht! Und wer ist, der uns so verächtlich von oben herab behandelt? Ein Aktenmensch, der nebenbei frivole Liederchen trällert. Pfui Teufel! Ich verachte Euch alle miteinander, wenn Ihr Euch das gefallen lasset." Und wie zur Bekräftigung seiner Worte donnerte wieder die Faust auf den Tisch, und: „Nur abwarten! Wir werden den Adler schon rupfen!" scholl es dem jungen Hitzkopfe als Antwort entgegen. Im selben Augenblicke öffnete sich die Thür und herein trat ein etwa 25 jähriger Mann in Reitstiefeln, eine Reitgerte in der Rechten, und rief übermüthig: „Guten Abend, meine Herren! Schon alle beisammen! Da kann der Tanz ja gleich beginnen!" Und sein blitzendes Auge streifte spöttisch die erhitzten Köpfe, während ein kaum merkbares Lächeln seine üppigen Lippen kräuselte. „Der Wolf in der Fabel" flüsterte Voß dem neben ihm sitzenden Boie zu, während dieser sich erhob und den Amtmann von Altengleichen denen, die ihn noch nicht kannten, der Reihe nach vorstellte. Dann setzte man sich, und Boie sagte mit vielsagendem Blick zu den Stolbergen hinüber: „Silentium! Die Sitzung des Göttinger Dichterbundes ist eröffnet. Der Amtmann von Altengleichen, Herr Gottfried August Bürger, wird die Güte haben, uns sein neues, mit so vielem Pomp angekündigtes Gedicht vorzulesen." Bürger erhob sich und ließ noch einmal sein helles Auge über die Gesellschaft schweifen. Er mußte wieder lächeln. Befand er sich unter Kollegen oder in einem Verein von Scharfrichtern und Henkern? Was er in diesen Augen las, war Neid, hämischer Spott und versteckter Haß. Er prägte sich die Gesichter ein — er freute sich schon darauf, wie er sie durch sein Gedicht verschönern würde. Und er begann zu lesen:
   Lenore fuhr um's Morgenroth
   Empor aus wüsten Träumen---
Und er las und las, und je weiter er kam, um so stiller wurde es im Zimmer. Man hätte eine Stecknadel zur Erde fallen hören. Mit athemloser Spannung hingen aller Augen am Munde des schönen jungen Mannes, von dessen Lippen neue unerhörte Worte sprudelten — Worte - die lauter klare Bilder vor das Auge des Hörers zauberten — schaurige Bilder, wie sie der von Sturmwolken verfolgte Mond auf die weißgetünchte Wand einer Dorfkirche wirft— leibhaftige Gespenster, die Niemand, auch der ungläubigste Mensch nicht wegleugnen kann, weil sie aus des Menschen eigener Seele emporsteigen, ein Stück Natur wie die fliehenden Wolken am Himmel — und darum jedes Bild zugleich ein Wehschrei des Herzens — ein wundersames Ineinander von Außen- und Innenwelt. Das war das Neue, das Unerhörte, was die Mitglieder des Hainbundes an diesem Abend erlebten. Darum zitterten und fieberten sie, als ihnen Bürger seine „Lenore" vorlas. Ja, der junge Graf Stolberg lebte so ganz und gar im Banne des grausigen Gespensterrittes, daß er bei den Worten:
   Rasch auf ein eisern Gitterthor
   Ging's mit verhängtem Zügel;
   Mit schwanker Gert' ein Schlag davor
   Zersprengte Schloß und Riegel
entsetzt vom Stuhl empor sprang. Denn der Vortragende hatte dabei mit der Reitpeitsche auf den Tisch geschlagen. Und als Bürger endete, fielen ihm die Neider und Krittler stürmisch um den Hals und keiner zweifelte mehr, wer der Größte unter ihnen sei.
Und eine gerechte Nachwelt wird noch tausend Mal besser wissen, was sie von Gottfried August Bürger zu halten hat. Ja, sie wird vieles gut zu machen haben, was die Zeitgenossen, durch Schillers scheelsüchtige Kritik verleitet, an dem großen deutschen Balladen- und Liederdichter gesündigt haben. Uns Menschen von heute geht es ja mit Bürger, wie mit so manchem anderen großen Künstler: wir entdeckten ihn gleichsam neu, wir fühlen seine Größe und Eigenart zum ersten Mal als eine Bereicherung unseres eigenen Selbst. Denn das neue Lebendige, was rings um uns her im weiten Reiche der Kunst emporblüht, lehrt uns erst die Vergangenheit so recht verstehen; wir haben mit der neuen Kunst auch neue Maße gefunden, an denen wir die Dichter und Denker früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte messen, und wir holen im klaren Bewußtsein unseres guten Rechtes so manchen, den die Zeitgenossen überschätzt haben, von seinem Piedestal herunter, damit er einem Größeren den Platz räume, mögen dabei auch gewisse Leute, auf des Lehrers Wort schwörend, zum Ergötzen aller Kunstfreunde noch heute ihr auswendig gelerntes Sprüchlein von den „perversen Gründeutschen" herunterleiern, ja, mögen vor Schreck darüber alle Sterne und Sternschnuppen von Stuttgart bis nach Hamburg vom Himmel fallen. Aber wie wir bisweilen unbarmherzig und rücksichtslos alte Literaturlegenden und Geschichtslügen zerstören oder einen Heiligenschein von einem Kopf, auf den er nicht paßt, herunterreißen, so zerren wir auch so manchen Vergessenen, der es verdient, wieder an's Tageslicht hervor und weisen so manchem Mißachteten, den die zünftige Literaturgeschichte vorher über die Achsel angesehen und bemitleidet hatte, den ihm gebührenden Ehrenplatz an.
Wenn man in den landläufigen Literaturgeschichten nach dem Namen Bürger sucht, so stößt man überall auf jene beleidigenden Ausdrücke wohlwollenden Bedauerns, mit denen einst Schiller den Dichter der Lenore den Zeitgenossen zu verleiden suchte. Es scheint fast, als schämten sich alle diese gelehrten Herren des entarteten Pfarrersohnes von Molmerswende, der in der Sylvesternacht von 1747 zu 1748 im Halberstädtischen geboren wurde. Und kann man's ihnen verdenken? Für die ehrliche, rücksichtslose Natur des sprachgewaltigen Justizamtmannes der Familie Uslar in Altengleichen, der zu leben wagte, was er dichtete, muß den ängstlichen Gemüthern, die den äußeren Schein über Alles stellen, jegliches Verständniß fehlen. Die gewaltige Leidenschaft, die den jungen, verheiratheten Dichter stürmisch in die Arme seiner Schwägerin Auguste (Molly) riß, gilt ihnen nicht mehr und nicht weniger als die erste beste unerlaubte Liebschaft. Und daß Bürger aus dieser seiner großen Liebe kein Hehl machte, sondern, als er sie nicht niederzwingen konnte, offen vor aller Welt mit den beiden Schwestern in einer Doppelehe lebte, halten sie im Grunde des Herzens für eine Schamlosigkeit ohne gleichen. Und daß ihm gar die geliebte Molly, während die rechtmäßige Ehe noch bestand, ein Kind gebar, das ist in ihren Augen der Gipfel genialischer Rücksichtslosigkeit. Ich habe weder Zeit noch Lust, Bürger wegen des seltsamen Dreibundes, der ihm selbst Jahre lang unerhörte Qualen schuf, großmüthig zu entschuldigen. Wer die große Leidenschaft und die Ehrlichkeit des Menschen gegen sich selbst zu schätzen weiß, wird mich ohnedies verstehen. Und zweifelte er etwa dennoch, so könnte ich ihn ruhig auf die heißen Liebeslieder verweisen, in denen alle Wonnen und Qualen jener stürmischen Jahre wiederklingen. Bei keinem Dichter jener Tage war eben Leben und Dichten so ganz eins wie bei Bürger. Darin beruht die Größe des Menschen wie des Dichters. Alles, was man ihm zum Vorwurf macht, Alles, um dessentwillen man ihn verdammt hat, verwandelt sich in einen Lobgesang auf ihn, sobald man den Menschen und Dichter zugleich in's Auge faßt.
     Rückkehr zur Natur, Bewunderung der alten Griechen, Verehrung Shakespeares als des größten Vorbildes deutscher Dichtung — das war der große Dreiklang, in den alles Dichten und Trachten der Stürmer und Dränger des vorigen Jahrhunderts ausmündete. Bürger war einer der Wenigen, der die Phrasen jener Tage in Thaten umsetzte, aber er war zugleich der einzige, der mit der Wünschelruthe des Genius die vergrabenen Schätze der Volkspoesie entdeckte, nicht etwa nur, um sie, wie Herder, zu sammeln und aufzuspeichern, nein, um das gefundene Gold in der eigenen Münze neu zu prägen. Der Volkston der Kunstdichtung ward durch ihn entdeckt, die bewußte Versenkung des Kulturmenschen in die Wunderwelt der Sage und der Ahnungen und die Neugestaltung dieser Wunderwelt im Liede. So wurde Bürger der Schöpfer der deutschen Ballade — nicht in dem Sinne der bekannten Schiller'schen Schulgedichte, in denen alle wundersamen Begebenheiten nur um der angehängten Moral willen erzählt werden, sondern im Sinne Goethe'scher Naturpoesie, in der alles Vergängliche von selbst zum Gleichniß wird, in der der Sagenstoff nicht bloß Mittel zu höheren moralischen Zwecken, sondern das A und O der ganzen Dichtung ist.
     Darum packen uns Balladen wie die Lenore, das Pfarrerstöchterlein von Taubenheim, der wilde Jäger, Kaiser und Abt, das Lied vom braven Mann, trotz einer gewissen Breite der Schilderung und einzelner rhetorischen Ueberschwänglichkeiten heute noch, als wären sie erst gestern gedichtet worden. Denn Alles ist hier geschaut, nichts gemacht und gekünstelt, und selbst die Weitschweifigkeit und ein gewisser Wortbombast, der oft mit unterläuft, stören uns kaum, denn sie erinnern unwillkürlich an die Geschwätzigkeit mancher Volkslieder.
Gottfried August Bürger starb im Elend — der beste Beweis, daß er ein großer Dichter war. Oder wann hätten die Deutschen einen Dichter nicht verhungern lassen? Als der Sprachgewaltige nach dem Tode seiner geliebten Molly, der er in seinem hohen Leiden [Lied] von der Einzigen ein herrliches Denkmal setzte, als Professor nach Göttingen berufen wurde, erhielt er zwar, wie das in Deutschland üblich ist, einen schönen Titel, aber keinen Gehalt. Die kurze Liebesepisode mit dem Schwabenmädchen Elise Hahn, die ihn aus der Ferne anschwärmte, um ihn als Weib zu verrathen, endigte mit einer Scheidung. Schiller's abfällige Kritik, die sich nur aus idealistischer Voreingenommenheit und heimlichem Neid erklären läßt, half in weiten Kreisen Bürger's literarischen Ruf untergraben. Und so verbitterten leibliche Noth und geistige Anfeindung die letzten Lebensjahre des Dichters. Aber Bürger's Größe zeigte sich auch hier. Das Elend konnte ihn wohl brechen, aber nicht biegen. Das Evangelium seiner Kunst, die felsenfeste Ueberzeugung, daß das Eigenthümliche, das streng Individuelle, das Schöne, idealisirte Empfindung dagegen ein Unsinn sei, ließ er sich durch keine Hungerkur und durch keine Schiller'sche Kritik rauben. Und so wurde dieses sprachschöpferische Genie der Vater des deutschen Realismus und der gesammten modernen Dichtung. Im Jahre 1794 starb er an der Schwindsucht. Wie hatte er doch in seinem schönen Sinngedicht „Mannestrotz" gesagt:
     So lang ein edler Biedermann
     Mit e i n e m Glied sein Brod verdienen kann,
     So lange schäm' er sich nach Gnadenbrod zu lungern!
     Doch thut ihm endlich keins mehr gut,
     So Hab' er Stolz genug und Muth
     Sich aus der Welt hinaus zu hungern.
Bürger, bei dem Leben und Dichten eins war, hat, ein ganzer Mann, diese stolze Lehre buchstäblich befolgt.