Die Glocke, 9.6.1944

Der Dichter der "Lenore"
Zu G. A. Bürgers 150. Todestag am 8. Juni
     Von Dr. Wilhelm Schoof

Der am 31. Dezember 1747 zu Molmerswende bei Halberstadt geborene Dichter Gottfried August Bürger ist der Schöpfer der neuen volkhaften, d. h. der im deutschen Volkstum wurzelnden Ballade. Die volkhafte Dichtung führt in ihren Anfängen bis auf Herder zurück. Herders und Goethes Straßburger Begegnung im September 1770 ist die Geburtsstunde jener Bewegung geworden, die als die „deutsche Bewegung“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist und in bewußter Auflehnung gegen die Ueberschätzung alles Bildungsmäßigen eine bodenständige Eigenkultur forderte.
   Bürger war von den Herderschen Ideen mächtig ergriffen worden. Ihm gelang 1773 mit einem aus dem deutschen Volkstum geschöpften Stoff ein großer Wurf, der ihn mit einem Schlag berühmt machte. Es war das Gnadengeschenk einer gesegneten Dichterstunde, eine Stimmung wiederzugeben, an der sich die Begeisterung von Millionen entzündete, die wie der volle Ausbruch des gesamten Volksempfindens wirkte. Zugrunde liegt der Ballade „Lenore“ eine bei germanischen und slawischen Völkern verbreitete Sage: Die Geister der auf dem Schlachtfeld gefallenen Helden werden durch die Tränen der Ueberlebenden in die Welt zurückgeführt und nehmen ihr Liebstes mit in das Jenseits. Es gab auch ein Spinnstubenlied, von dem Bürger aber nur wenige Zeilen kannte und trotz wiederholter Nachfrage nicht mehr erfahren konnte. Bei einem Spaziergang im Mondenschein hatte er ein Bauernmädchen singen hören:
   „Der Mond, der scheint so helle,
   die Toten reiten schnelle;
   feins Liebchen, graut dir nicht?“
Dieses Volkslied soll noch zu Bürgers Lebzeiten in Hannover ziemlich verbreitet gewesen sein. Andere Vorlagen hat Bürger nicht benutzt. Das unvollständige Volkslied tönte unablässig an sein Ohr und wirkte so stark auf seine Einbildungskraft ein, daß sich schließlich Strophen formten, aus denen nach einigen Monaten die „Lenore“ entstand. Sie erschien 1774 in Boies Göttinger Musenalmanach und erregte bei ihrem Erscheinen gewaltiges Aufsehen.
   Schon gleich mit den Eingangszeilen
       „Lenore fuhr ums Morgenrot
       empor aus schweren Träumen:
       Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
       Wie lange willst du säumen?“
setzt ein mitreißendes Tempo ein und läßt uns bis zum Schluß nicht wieder los. Lebt der Bräutigam noch und ist er aus dem Krieg heimgekehrt, um seine Braut zum Altar zu führen; oder führt der Tod selbst die fieberkranke Braut mit sich?, so fragt der Leser. Man hat aber kaum Zeit, große Betrachtungen anzustellen, denn man wird wie von einem umlaufenden Rad von der Handlung fortgerissen.
   Selten hat ein deutsches Gedicht einen solchen Sturm der Begeisterung erweckt wie Bürgers „Lenore". Selbst Leute, die nur notdürftig lesen und schreiben konnten, wußten es ganz oder teilweise auswendig. Bürger hatte mit dieser Ballade Herders Lehre, daß die Volkspoesie alle Kreise des Volkes durchdringen und ihr Stoffgebiet aus dem Volk — nicht wie bei Schiller aus dem klassischen Altertum — nehmen müsse, in die Tat umgesetzt. Bürger selbst erlebte wiederholt die unerhörte Wirkung seiner Kunst. Als er „Lenore" in Göttingen seinen Dichterfreunden zum erstenmal vorlas und bei der Stelle
    „Rasch auf ein eisern Gittertor
    ging's mit verhängtem Zügel.
    Mit schwanker Gert' ein Schlag davor
    zersprengte Schloß und Riegel.“
mit seiner Reitgerte an die Zimmertür schlug, wurden sie so von Grauen und Bewunderung ergriffen, daß einer der Zuhörer in vollem Schrecken vom Stuhl aufsprang. Ein anderes Mal, als er sich auf einer Wanderfahrt befand, hörte er abends in der Herberge in einer an sein Schlafzimmer anstoßenden Bauernstube, wie der Lehrer des Dorfes die „Lenore“ unter dem lauten Beifall der ländlichen Zuhörer zur Vorlesung brachte.
  In alle deutschen Lesebücher und Anthologien fand das Gedicht Aufnahme und sicherte Bürger Unsterblichkeit. Noch heute ist Bürger unbestritten einer der volkstümlichsten Balladendichter. Seine späteren Dichtungen „Der wilde Jäger", „Des Pfarrers Tochter von Taubenheim", „Der Kaiser und der Abt", selbst die Ballade des völkischen Heroismus „Das Lied vom braven Mann“ haben die künstlerische Höhe der „Lenore" nicht wieder erreicht.
   Bürgers Leben zerrann durch eigene Schuld und endete 1794 in Not und Elend. Als ein innerlich Zerbrochener, als Opfer eines ungezügelten Lebensdrangs starb er, kaum 50 Jahre alt. Ueber räumliche und zeitliche Schranken des Lebens hinwegbleibt sein Verdienst unbestritten: Die Wiedergeburt der deutschen Ballade aus volkhaftem Geist.